Meine Freundin Ruth hat mit fast 40 Jahren ihren Beruf gewechselt. Letztens haben wir uns rückblickend darüber unterhalten: Wie dieser Übergang für sie war, wie es ihr jetzt geht. Und was Ruth ihren Kindern unbedingt für deren (Berufs-) Leben mitgeben möchte. Wir fanden es beide so wichtig, dass daraus dieser Blogartikel geworden ist 😊.
- Durchhalten – bis gar nichts mehr ging
- Erste zarte Pflänzchen…
- Bereit für den nächsten Schritt
- Es passt und – upps – macht sogar Spaß!
- Was mir leichtfällt, ist wertvoll
- Im Beruf und auch so geht es mir jetzt gut
- Was ich unbedingt meinen Kindern mitgeben möchte
RUTH: Wenn ich heute zum Feierabend nach Hause gehe, fühle ich mich oft beglückt. Auch wenn der Tag anstrengend war, hat mir die Arbeit auf anderer Ebene Energie gegeben. Ich spüre eine Leichtigkeit und viel mehr Weite ums Herz herum.
Das war nicht immer so…
RUTH: Nach dem Abi stand ich sehr unter Druck. Ich dachte: „Es muss jetzt gleich weitergehen. Und ich muss gleich wissen, wohin.“
Damals habe ich mir keine Zeit genommen, um Verschiedenes auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln. So hatte ich zum Beispiel berufliche Wege ohne Studium gar nicht im Blick.
Dann habe ich „Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien“ studiert, mich durch die Semester durchgearbeitet. Wie ich es auch von der Schule gewohnt war.
Susanne: In unserem Schulsystem liegt der Fokus häufig auf Inhalten, Leistungsvergleichen und dem vorgegebenen Lehrplan. Leider verstärkt dies die angeborene Neugier eher weniger. Der Zugang zum eigenen Bauchgefühl („Hey, das mag ich, das ist spannend!“) und den persönlichen Talenten („Was kann ich? Was will ich? Was liegt mir?“) verkümmert da manchmal ein wenig…
RUTH: Nach dem Diplom habe ich im internationalen Bereich von Universitäten gearbeitet. Immer am Schreibtisch, mit Termindruck und vielen Themen, die es parallel zu organisieren galt.
Nach der Arbeit war ich oft total platt. Die endlose To-Do-Liste saß mir wortwörtlich im Nacken, der Druck auf den Schultern. Ich bin oft mit dem Gefühl nach Hause gegangen: „Oh Gott, das habe ich alles NICHT geschafft.“
Susanne: Da hat dein Körper bereits sehr klare Signale geschickt. Der Kopf wollte (oder konnte) sie – vermutlich unbewusst – nicht wahrnehmen.
RUTH: Bereits in den ersten Jahren meiner Berufstätigkeit habe ich gemerkt: Das ist nicht das, was ich machen will. Und es war auch ein Gefühl da von „Das ist nicht das, was ich machen sollte.“ Allerdings hatte ich keine Idee, was es stattdessen sein könnte.
Ich stieg um auf den Modus „Durchhalten“.
Susanne: „Augen zu und durch!“ oder „Stell dich nicht so an!“ – diese Glaubenssätze höre ich häufig im Coaching – und kenne sie auch selbst. Die vernunftgesteuerte Selbstkontrolle übergeht das Bauchgefühl und die Körperreaktionen – sicher ist sicher. Leider ein Trugschluss: Auf Dauer das eigene Bauchgefühl und die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, das macht krank! Mehr dazu im im Theorie-Happen: Gute Entscheidungen, Erdbeereis und Körpersignale.
Bis gar nichts mehr ging
RUTH: Mit den Jahren stieg der Leidensdruck deutlich an. Das Stressgefühl, das Nicht-abschalten-können wurde immer stärker. Bis zu dem Punkt, an dem mir bewusst wurde, dass ich krank bin und es so nicht weitergehen kann.
Ich war völlig erschöpft, es ging nichts mehr. Im Frühjahr 2017 wurde ich krankgeschrieben. Ich befand mich in einem sehr tiefen, dunklen Tal.
Da wurde mir klar: Ich habe zu lange nicht mehr auf mich geachtet. Und mein Körper hat mir extrem deutlich aufgezeigt, dass er dringend etwas anderes braucht.
Susanne: Gut, dass der menschliche Körper manchmal schlauer ist als der Kopf und die „Notbremse“ zieht!
RUTH: Ich habe angefangen, mich besser zu versorgen, und mir Unterstützung geholt. Der Gedanke „Ich möchte nicht mehr zurück in den alten Job.“ wurde immer stärker – aber immer noch ohne zu wissen, wie es stattdessen weitergehen könnte.
Diesmal empfand ich keinen Druck, gab mir die Zeit. Dank der Krankheit konnte ich das gut annehmen. Obwohl es eine wirklich schwere, dunkle Zeit war, war trotzdem auch irgendwie das Gefühl da: „Das hat schon seinen Sinn, dass es jetzt so ist.“
Rückblickend bin ich froh: Wie gut, dass es damals so schlimm war in dem Tief! Sonst wäre es immer so weiter gegangen. Und ich hätte nie den Mut gehabt, das Alte gehen zu lassen und mich auf die Suche zu machen, was ich alternativ beruflich machen könnte.
Erste zarte Pflänzchen…
RUTH: Ich wusste sehr genau, was ich nicht mehr wollte.
Und ich habe mir – zum ersten Mal in meinem Leben – ganz bewusst und offen die Frage gestellt: Wie könnte es weitergehen?
Ein Gespräch, das ich im Herbst 2017 mit meinem Mann hatte, hat sich im Nachhinein als bedeutsam herausgestellt. Als ich ihm gegenüber erwähnte, dass ich nicht mehr am Schreibtisch arbeiten möchte, und er fragte „Was gäbe es dann denn überhaupt für Berufe?“, antwortete ich ganz spontan und ohne zu überlegen: „Na, zum Beispiel Erzieherin.“
Erst dachte ich, mir kam dieser Beruf nur in den Sinn, weil er mir täglich in der Kita unserer Kinder begegnete. Doch irgendwie brachte dieses Gespräch in mir einen Stein ins Rollen und ich habe diese Option zum ersten Mal wirklich in den Blick genommen.
Über viele Monate hinweg bin ich mit der Idee schwanger gegangen und sie hat sich immer besser angefühlt. Aber es war auch noch große Unsicherheit da.
Mein Mann hat mich in dieser Phase sehr unterstützt – und mir weder finanziell noch zeitlich Druck gemacht.
Bereit für den nächsten Schritt
RUTH: Im Sommer 2018 ging es mir gesundheitlich langsam besser und im Rahmen der ambulanten Reha wurde klar, dass ich bereit bin für den nächsten Schritt: Ich beendete das Arbeitsverhältnis – vom Krankenstand in die Arbeitslosigkeit.
Dieser bewusste Abschluss des bisherigen beruflichen Abschnitts war wichtig gewesen.
Mir ist auch wieder eingefallen, dass ich als Jugendliche gerne bei einer Familie Kinder betreut hatte und damals dachte: „Ich will mal was mit Kindern machen.“. Dieser Gedanke war in den späteren Schuljahren völlig untergegangen, einfach weg! Jetzt kam er wieder.
Ab Herbst 2018 habe ich verschiedene Praktika in Kindergärten gemacht, um es auszuprobieren und mir sicherer zu werden.
Susanne: Wie wichtig, ein Gefühl dafür zu bekommen! Ohne Erfahrungswerte findet der Bauch schnell etwas doof oder unheimlich. Er weiß ja nicht, wie das ist – logisch! Ob ich etwas mag (z.B. Sport, Musik, Essen), kann ich ja auch erst sagen, wenn ich es kenne.
Es passt und – upps – macht sogar Spaß!
RUTH: Sehr schnell war klar: Es passt! Im Sommer 2019 habe ich berufsbegleitend meine Ausbildung zur Erzieherin begonnen und letztes Jahr im September abgeschlossen.
Die tollste Erfahrung bei der Ausbildung war: Die Themen haben mich mehr interessiert und bereichert als alles, was ich im Studium gemacht habe.
Susanne: Es macht einen Riesenunterschied, ob ich etwas aus Pflichtbewusstsein oder aus Neugier lerne. Ein gutes Bauchgefühl wie „Au ja, das ist spannend!“ steigert die Motivation und die Lernwirkung.
RUTH: Im Laufe der Zeit sind mir immer mehr Punkte im Kindergarten-Alltag aufgefallen, die zu mir passen: Ich arbeite gerne Hand in Hand in einem Team, das den Tag gemeinsam bewältigt (und nicht bloß Arbeitspakete aufteilt). Mit dem ich mich austauschen kann.
Was mir besonders gut gefällt: Die Kita-Kinder sind voll im Hier und Jetzt. Auch wenn es heute vielleicht blöd war, wird es morgen wieder anders sein. „Neuer Tag, neues Glück“ 😊!
Was mir leichtfällt, ist wertvoll
RUTH: Das, was ich früher als meine Kompetenzen wahrgenommen habe, habe ich vor allem außen widergespiegelt bekommen – in der Schule, im Studium, im Job. Ich sei zum Beispiel sehr strukturiert und habe die Fähigkeit, den Überblick zu behalten.
Etwas, das ich gut konnte, was mich aber auch sehr angestrengt hat. Da war wenig Leichtigkeit dabei.
Als Erzieherin brauche ich nun Kompetenzen, die ich früher gar nicht als solche wahrgenommen habe. Und die mir leicht fallen.
Zum Beispiel waren soziale Kompetenzen für mich selbstverständlich. Während meiner Ausbildung zur Erzieherin ist mir erst richtig bewusst geworden, wie wertvoll sie sind. Vorher habe ich dazu nie eine Rückmeldung bekommen. Und immer gedacht: „Das ist halt meine Art.“
Was gesellschaftliches Ansehen und Gehalt angeht, wird der Job als „Erzieher*in“ leider als recht unwichtig eingestuft. Das ist mir unbegreiflich. Denn: Er ist derart relevant und hat langfristige Auswirkungen auf das Leben der Kinder, die Familien und unsere Gesellschaft!
Mit zwei Gehältern kommen wir zum Glück gut hin. Wäre ich alleinerziehend oder Alleinverdienerin, dann wäre das etwas total anderes.
Im Beruf und auch so geht es mir jetzt gut
RUTH: Ich schätze mich glücklich, dass ich jetzt eine Arbeit habe, die mir Spaß macht, und die so gut für mich passt. Die mir nicht nur Energie zieht, sondern aus der auch ich etwas ziehe.
Das, womit ich mich beschäftige, darf einen Sinn haben und einen Zusammenhang mit meinem Leben! Noch heute staune ich manchmal darüber😊 ! – Ob es so etwas für jeden Menschen gäbe?
Ohne die Krankheit wäre ich jedenfalls nicht da, wo ich jetzt bin. Ich kenne mich besser. Und achte weiterhin mehr auf meine Bedürfnisse. Bin viel besser in Verbindung mit meinem Bauchgefühl.
Manchmal frage ich mich: „Ob es mir damals schon gelungen wäre, gleich etwas Passendes für mich zu finden?“ Vielleicht ja, vielleicht nein. Egal wie – ich hätte mir in jedem Falle einen breiteren Blick und mehr Mut zum Ausprobieren gewünscht!
Was ich unbedingt meinen Kindern mitgeben möchte
Ruth: Meine Kinder haben noch ein paar Jahre bis zu ihrer Berufswahl. Ich möchte sie ermutigen:
- Nimm dir die Zeit zum Ausprobieren!
- Sammle Erfahrungen im echten Leben – nicht aus dem Lehrbuch. Mache z.B. Praktika, ein FÖJ oder FSJ, einen Minijob,…
- Reflektiere für dich: Was war es, was mir dort gut gefallen hat? Was hat mir gar nicht gefallen? Was passt zu mir? Und was nicht?
- Deine Kompetenzen und Talente sind wertvoll! Schau sie dir genauer an: Was liegt dir, was fällt dir leicht? Wo sind besonders gute Einsatzorte für deine Talente?
Und am wichtigsten: Achte gut darauf, dass dein Kopf, Herz, Körper und Bauchgefühl in Verbindung bleiben.
Das möchte ich meinen Kindern auch weiterhin vorleben. Und mit Leichtigkeit und weitem Herzen von der Arbeit nach Hause kommen.
Susanne: Herzlichen Dank, liebe Ruth, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast!
Wann ist man eigentlich erfolgreich? Vielfältige Maßstäbe zu dieser Frage findest du im gleichnamigen Blogartikel.
Mehr zum Thema Bauchgefühl und Übergänge erfährst du in meinem Theorie-Happen: Gute Entscheidungen, Erdbeereis und Körpersignale.
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